Der Legende nach lebte der berühmte Daoist und Kampfkunstmeister Zhang San Feng im 14. Jahrhundert als Eremit in den Wudangbergen. Das Leben der Einsiedler war hart und entbehrungsreich. Es war bestimmt von der Furcht vor Wegelagerern und wilden Tieren. Zhang San Feng suchte, so die Legende, nach einer Möglichkeit seine Kampfkunst durch die Integration der daoistischen Prinzipien von Yin und Yang, weich und hart, zu verbessern.
Eines Morgens beobachtete er den Kampf zwischen einem Kranich und einer Schlange: Der Kranich stößt aus der Luft auf die Schlange hinab. Doch kurz bevor er sie erreicht, schlängelt sie in schnellen Bewegungen davon. Sie lässt sich nicht packen. Immer wieder versucht der Kranich seine Beute zu fassen – doch ohne Erfolg. Schließlich wickelt die Schlange sich sogar um seinen Hals und versucht, ihn zu würgen.
Nur mit größter Mühe gelingt es dem Kranich, sich wieder zu befreien.
Völlig erschöpft gibt er am Ende auf.
Da verstand der Einsiedler Zhang San Feng, wie auch das Weiche das Harte besiegen kann und entwickelte die Grundlagen der Inneren Kampfkunst Taijiquan. Seither konnte er durch Beweglichkeit auch den härtesten Angriff abwehren. Ohne große Anstrengung besiegte er wilde Tiere und Räuber. So kehrten Ruhe und Frieden in die Wudangberge ein und Zhang San Feng erlangte Unsterblichkeit.
Durch schriftliche Quellen lässt sich der Ursprung des Taijiquan allerdings nur bis ins 17. Jahrhundert auf Chen Wanting zurückverfolgen. Als Sohn eines Militärclans und General im Dienste der Ming-Dynastie verteidigte er sein Land gegen Eindringlinge und Aufständische und begleite die kaiserliche Familie auf Reisen. Dabei begegnete Chen Wanting den verschiedensten Kampfkünstler und Stilen und gewann aus diesen freiwilligen oder unfreiwilligen Treffen Impulse für seine eigene Kampfkunst. Nach dem Zerfall der Dynastie (1644) wurde Chen Wanting unter der Herrschaft der Qing entlassen. In der folgenden Zeit widmete er sich dem Studium klassischer Texte, u.a. über daoistische Wege zur Gesunderhaltung und Lebenspflege. Beeindruckt von dem Huang Ting, einem Buch über „innere Energiearbeit“, und den „Anleitungen zum Boxen“ des Generals Qi Jiguang (16. Jh.), schuf er eine eigene Schule, die die Meridianlehre mit der Boxkunst verband. Bisher wurde die Kunst des Boxens durch Atemtechniken und Meditation verfeinert. Chen Wanting kombinierte nun Übungen zur Lebenspflege, Meditation und Selbstverteidigung auf dem Hintergrund der Yin/Yangtheorie und TCM und fasste sie zu einem System zusammen. Die auf ihn zurückgehende Kampfkunst wird Chenstil-Taijiquan genannt und in seiner Familie seit Generationen weitergegeben. Der spätere Yangstil, der Wustil und z.T. der Sunstil gehen unmittelbar auf den Chenstil zurück, haben jedoch eigene Formen mit charakteristischen Merkmalen entwickelt.
Die Frage nach dem Ursprung des Taijiquan löst immer wieder Diskussionen aus. Gab es tatsächlich einen Eremiten Zhang San Feng oder war General Chen Wanting Begründer dieser sogenannten Inneren Kampfkunst?
Wir können davon ausgehen, dass kaum ein einzelner Mansch ein derart komplexes System entwickeln kann. Es muss Vorläufer und, wie in der Legende über Zhang San Feng beschrieben, ähnliche Ansätze gegeben haben, die auf dem Hintergrund des Daoismus, der Yin/Yangtheorie und den Grundlagen der TCM entstanden sind.
Sinnvoll ist es sicherlich auch bei der Suche nach dem Ursprung des Taijiquan, die gesellschaftliche Stellung des Generals zu betrachten. Im Gegensatz zu einem daoistischen Eremiten war es für ihn auf Grund seiner Herkunft relativ einfach, Taijiquan als seine Kampfkunst zu verbreiten, d.h. auch systematisch und historisch belegbar weiterzugeben.
In seiner Doktorarbeit „Le Wudangshan: Histoire de Recit fondateur“, Paris 1997, stellt Henry de Bryn noch eine weiteren Aspekt zur Diskussion. Er vermutet, dass die Ursprünge des Taijiquan noch vor Zhang San Feng in rituellen Initiationstänzen daoistischer Gemeinden zu suchen sind.
In vielen Kulturen bedeutet die Initiation der jungen Männer, sie u.a. auch in der Kampfkunst zu schulen, um sowohl zu ihrer Charakterbildung wie zur Sicherheit der Gesellschaft beizutragen.
Das circa im 6. Jh. entstandene schnelle Shaolinboxen – hier Kungfu genannt – kam für die Chinesen von außen, nämlich aus den buddhistischen Shaolinklöster, deren religiöser Ursprung in Indien liegt. Dagegen, so die Vermutung, setzten sie in ihren Initiationsritualen eigene „Innere Kampfkünste“, die später Taijiquan, Bagua und Xinghi genannt wurden. Sie beruhen auf den daoistischen Prinzipien von Yin und Yang, Ruhe des Geistes und Wu-Wei – „Handeln im Nichthandeln“ und breiten sich heute sowohl als Kampfkünste wie als Übungen zur Gesundheitspflege über die ganze Welt aus.